"Noch sitzt ihr da oben, ihr feigen Gestalten,
vom Feinde bezahlt und dem Volke zum Spott.
Doch einst wird wieder Gerechtigkeit walten,
dann richtet das Volk und es gnade euch Gott."

Carl Theodor Körner

Coronareligion

Die Tage werden immer kürzer, die Temperaturen fallen, jeden Tag nimmt die Dunkelheit zu, der Trend ist klar erkennbar, bald wird die Finsternis ganz von uns Besitz ergreifen, dann wird es gar nicht mehr hell werden und alles wird erfrieren. „Der Anstieg muß gestoppt werden“, wir „müssen einen unkontrollierbaren Anstieg verhindern“, schnell und entschlossen handeln und alle Anstrengungen auf uns nehmen, uns distanzieren, nicht mehr feiern, unser Antlitz verhüllen und vor allem der Obrigkeit Gehorsam leisten, um den Trend wieder umzukehren und Tageszeiten und Temperaturen wie im Sommer herzustellen. Erste Bürgerpflicht ist wieder Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Jeder ist aufgefordert, alles dafür zu tun, diesen verheerenden Trend umzukehren, um das Unheil doch noch von uns abzuwenden. „Wenn wir jetzt die akut steigenden Ansteckungszahlen in den Griff bekommen“ und uns alle an die Maßnahmen halten, können wirs schaffen und erwirken, daß sich die Lage normalisiert und vielleicht schon vor Weihnachten („Wer zu früh lockert, der riskiert Weihnachten“), spätestens aber im nächsten Sommer die Tage wieder länger werden und die Temperaturen steigen.  

Sind wir wieder im Mittelalter angekommen, wo man den Menschen völlig natürliche und zudem in keiner Weise außergewöhnliche Phänomene als etwas verkaufen kann, das von ihrem Verhalten abhängig ist? Die pseudowissenschaftliche Panikmache reicht wohl nicht mehr aus, um die Dosis der verabreichten Angst beständig zu steigern. Politik und Medien bemühen nun zunehmend religiöse Begriffe: Corona ist eine Heimsuchung und Strafe Gottes, die wie ein Blitz aus dem Himmel jeden treffen kann, nur weil sich einige nicht in Demut und Gehorsam gegenüber der Obrigkeit üben. Nicht ein typisches Naturphänomen, mit dem man rational umgehen kann, ist unser Problem, sondern die Ungehorsamen sind es, die durch ihr unsolidarisches Verhalten alle in Gefahr bringen, es sind die Maskensünder und Coronaleugner, die sich weigern, das herrschende Dogma anzuerkennen und die genauso hart bestraft werden müßten wie die größten Sünder unserer Zeit, wenn sie nicht wie andere Ketzer, Zweifler und Ungläubige, ihre Aussagen widerrufen und in den Schoß des einzig wahren Glaubens zurückfinden.

Wir haben Atomwaffen und Künstliche Intelligenz, aber die Menschen sind noch immer dieselben wie vor 500 oder 5000 Jahren, als die Pharaonen mit Sonnenfinsternissen drohen und ihre Untertanen zum Gehorsam ermahnen konnten. Eigentlich sollte es jeder wissen: diese jährlich wiederkehrenden Phänomene nennt man Jahreszeiten und zu ihren spezifischen Begleiterscheinungen im Herbst und Winter gehört die Erkältungssaison. Deshalb heißen die Jahresberichte der AG Influenza des RKI auch Saisonberichte, die nicht die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember umfassen, sondern das Infektionsgeschehen von der 40. bis zur 20. Kalenderwoche, also während der Wintersaison dokumentieren. Und dazu gehören immer mehr Erkrankte, eine größere Auslastung der Krankenhäuser und eine höhere Sterblichkeit als im Sommer. Die Erkältungssaison kommt immer im Herbst und verschwindet wieder im Frühjahr, jedes Jahr, immer wieder und ganz von alleine. Ich frage mich, wie irgendjemand ernsthaft glauben kann, daß die Infektionszahlen respiratorischer Vireninfektionen im Herbst nicht steigen könnten, daß man deren Anstieg bremsen oder gar umkehren und im Dezember dasselbe Infektionsgeschehen wie im Sommer haben könnte. Das ist genauso absurd wie die Annahme, wir könnten durch unser Handeln die Abfolge der Jahreszeiten umkehren oder ändern. Und dennoch wollen uns die erleuchteten Propheten der neuen Religion ernsthaft einreden, "Wir müssen handeln, sonst verlieren wir den Kampf gegen das Virus", wir sind „aus dem Gröbsten noch nicht raus" und "Trotz aller Anstrengungen ist eine Wende zum Besseren noch nicht erreicht", weil „die Infektionszahlen nach wie vor viel zu hoch sind. Sehr viel höher sogar als vor zwei Wochen“, als hätte es auch sein können, daß sie Mitte November niedriger wären als Ende Oktober, als hätte es sein können, daß die Tage im November plötzlich wieder länger werden. Aber wir können es schaffen, „die Infektionswelle nachhaltig zu brechen“, wenn wir nur nicht nachlassen in Demut und Gehorsam und im Glauben an unsere Führer. Durchhalteparolen wie 1945. Daß das nachhaltige Brechen der Infektionswelle erst im Frühjahr gelingen könnte, wenn wir „zumindest in den nächsten vier bis fünf Monaten mit erheblichen Vorsichtsmaßnahmen und Einschränkungen leben", läßt einen böswilligen Verdacht aufkommen...

Keinerlei Maßnahmen, wie weitgehend sie auch immer sind, werden irgendeinen Effekt auf die Jahreszeiten und ihre Begleiterscheinungen haben. Das Infektionsgeschehen gehört zur Erkältungssaison, mithin zu den Jahreszeiten und wird sich ganz genauso verhalten wie immer, ab Oktober ansteigen, im März seinen Höhepunkt erreichen und danach wieder abnehmen, und das vollkommen unabhängig von Lockdown, Maskentragen oder sonstigen Maßnahmen. Das Wort Welle beinhaltet ja schon eine Entwicklung mit Anstieg, Höhepunkt und Abnahme. Weil sich das aktuelle Infektionsgeschehen aber in keiner Weise von dem der vergangenen Jahre unterscheidet, in denen wir es noch als natürliches Phänomen behandeln durften, verordnen uns die Hohepriester der neuen Religion sogleich auch das neue Prinzip der Moral, den epidemiologischen Imperativ: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit als infiziert betrachtest und dich selbst und alle anderen stets vor Ansteckung schützt.“ Damit wir „die akut steigenden Ansteckungszahlen in den Griff bekommen“, können wir ja einfach Pandemie spielen und so tun, als ob wir alle infiziert wären. „Daraus ergibt sich unser Verhalten“. Wenn jeder für jeden eine Gefahr und Bedrohung ist, haben wir gute Chancen, die Nachlässigkeiten unserer Großeltern wett zu machen und noch tüchtigere Mitläufer, Blockwarte und Denunzianten zu werden.


AP, 17.11.2020