"Noch sitzt ihr da oben, ihr feigen Gestalten,
vom Feinde bezahlt und dem Volke zum Spott.
Doch einst wird wieder Gerechtigkeit walten,
dann richtet das Volk und es gnade euch Gott."

Carl Theodor Körner

Spaltung und Medienkompetenz

Bei vielen politischen Ereignissen wie z.B. Demonstrationen oder Festen gibt es heute Gegendemonstrationen und augenscheinlich stehen da auf beiden Seiten Leute, die sich in vielen Eigenschaften sehr ähnlich sind. Die Spaltung zieht sich durch die Mitte der Gesellschaft und teilt vor allem die politisch interessierten Menschen in zwei Gruppen: die, die als links und sogenannte Gutmenschen und die, die als rechts und sogenannte Rechtspopulisten bezeichnet werden. Beide haben mit den klassischen Definitionen von rechts und links gar nichts zu tun (siehe meine Abhandlung dazu).

Man kann natürlich vermuten, daß es sich dabei um das alte Teile-und-Herrsche-Spiel handelt und die Spaltung organisiert ist. Das will ich im Folgenden untersuchen. Dazu ein paar Ausschnitte vom Neuen Hambacher Fest, das Max Otte 2018 organisiert hat und auf dem u.a. Willy Wimmer von der CDU, Jörg Meuthen von der AFD, Thilo Sarrazin von der SPD, DDR Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld und Filmemacher Imad Karim zu den Rednern gehörten. Die Gegendemonstranten sehen wirklich genauso aus wie die Teilnehmer des Festes: sie tragen ähnliche Kleidung, sind im gleichen Alter und ähnlich sozialisiert. Ich bin sicher, daß sie dem größten Teil der Reden zustimmen würden, wenn sie sich nur mal trauten sie anzuhören.

Aber sie verhalten sich, als bestünde der Aufmarsch zum Fest aus im Gleichschritt marschierenden Neonazis mit Glatzen, Bomberjacke, Springerstiefeln, schwarz-weiß-roten Reichsflaggen und Rudolf-Heß-Transparenten. Abgesehen vom herrlich inszenierten performativen Widerspruch, gegen Leute zu demonstrieren, denen man vorwirft, sie wären gegen Meinungsfreiheit - woher haben die Gegendemonstranten ihre Infos über diejenigen, die sie mit Etikettierungen und Vorwürfen belegen, die objektiv gar nicht zutreffen und mit denen sich die Konfrontierten überhaupt nicht identifizieren können? Die haben sie natürlich aus den Medien, und zwar aus den Mainstreammedien und offenbar haben sie im Internet frei zugängliche Primärquellen mit Vorträgen und Äußerungen der Veranstalter und Redner gar nicht zur Kenntnis genommen. Der Unterschied zwischen den Menschen auf beiden Seiten der Spaltung besteht also primär im Medienkonsum, genauer gesagt in der Medienkompetenz, denn die Infos aus den Mainstreammedien sind ja faktisch falsch, mindestens einseitig und verkürzt. Die Teilnehmer vom Hambacher Fest sind ja gar nicht gegen Meinungsfreiheit und Liberalismus, denn offenkundig treten sie für dieselbe Freiheit von Herrschaft ein, für die sich auch schon unsere Vorfahren 1832 versammelt haben, und sogar die AFD fordert Volksabstimmungen und direkte Demokratie; sie sind auch keine Rassisten, sonst würde nicht Imad Karim in ihren Reihen auftreten. Und wer meint, der sei nur ein Alibiausländer, muß sich klar machen, daß echte Neonazis und Rassisten, wie es sie in den 1990er Jahren gab, keine Alibiausländer mitführen.

Medienkompetenz bedeutet, kritisch sein, hinterfragen, was Obrigkeit und Medien verkünden, fragen, was sie uns damit glauben machen, tun und erdulden lassen, welche politischen Ziele sie durchsetzen wollen. Sie hat was damit zu tun, Manipulations- und Machtmechanismen als solche zu erkennen, und setzt ein Bewußtsein dafür voraus, daß jede Information, die professionell verbreitet wird, einen Absender hat, der damit Interessen verfolgt. In der DDR wußten die meisten Menschen, mit den Medienerzeugnissen umzugehen, zu erkennen, welche Überzeugungen die Herrschenden uns damit verabreichen wollen.

Im Dritten Reich nannte man diejenigen, die das nicht können, Mitläufer, in der DDR die 150 Prozentigen. Heute sind es die Gutmenschen, deren wesentliche Eigenschaft genau dieselbe ist, gut sein zu wollen, aber vor allem naiv zu sein. Sie hinterfragen nicht, was Obrigkeit und Medien verkünden, benutzen unreflektiert die vorgegebene Sprachregelung: Verschwörungstheoretiker, Rechtspopulist, Rassist, Nazi, Antisemit, Holocaustleugner, ohne sich bewußt zu machen, daß die 1. gar nichts mit denen zu tun haben, denen diese Vorwürfe gemacht werden, 2. alle nur dem einen Zweck dienen, Tabus aufzurichten, damit man sich mit allem so etikettierten nicht auseinandersetzen muß, sondern solche Positionen ausgrenzen und pauschal bekämpfen kann. Sie haben kein Bewußtsein dafür, daß es sich um Machtmechanismen handelt, die jede Herrschaft zu jeder Zeit benutzt, um Kritik an sich zu unterdrücken. All diese Begriffe sind synonym mit dem Ketzer der Inquisition und wie einst steht der Ketzerei auch heute ein Dogma gegenüber, das nicht bezweifelt werden soll. Dabei ist längt durch Akten der CIA offengelegt, daß der heutige Ketzer, der Verschwörungstheoretiker gar nichts anderes ist als ein 1967 gezielt konstruierter Diffamierungsbegriff, mit dem der schon zu groß und gefährlich gewordene Skeptizismus gegenüber der offiziellen Regierungserklärung zum Kennedyattentat unterdrückt werden sollte. Das Wort ist eine Erfindung der CIA. Wer es unreflektiert benutzt, vor allem da, wo selbst die offizielle Erklärung eine Verschwörung behauptet, zeigt damit nur seinen Mangel an Medienkompetenz.

Was bringt Menschen dazu, so unkritisch und unreflektiert zu sein und sich Schranken im Denken errichten, mithin fremd bestimmen zu lassen? Intellekt und Intelligenz können es nicht sein, denn die Menschen auf beiden Seiten werden dieselben Bildungsabschlüsse und –wege, ähnliche Sozialisationen und berufliche Qualifikationen haben. Sie machen nur unterschiedlichen Gebrauch von ihrem Menschenverstand und das legt die These nahe, daß es eine Frage des Charakters ist, daß es um angeborene und/ oder sozialisierte Persönlichkeitseigenschaften geht.

Wovon hängt es ab, was man als Wissen und Überzeugung annimmt, was eine Überzeugung generiert und Informationen plausibel und glaubhaft macht? Man kann parallel zu Max Webers Formen der Herrschaft Formen der Plausibilität beschreiben. Was ist auf die Frage nach dem Grund, warum etwas so ist, eine plausible und vor allem endgültige Antwort, die jede weitere Frage erübrigt? In der traditionellen Plausibilität ist es die Antwort „weil es schon immer so war“. Die autoritative Plausibilität beruft sich auf als Autoritäten anerkannte Personen oder Institutionen: „weils die Kirche“ oder „weils der Führer befiehlt“ oder „weils geschrieben steht“. In der rationalen Plausibilitätsform besteht die Begründung in einer wissenschaftlichen Argumentation, die sich auf Fakten, Studien und Messungen, mithin auf Wahrheit stützt. Daneben gibt es aber noch eine Form, die Plausibilität mit dem „Argument“: „weil alle es sagen“ herstellt. Die kann man konformistische Plausibilität nennen.

Die naheliegendste Antwort, was eine Information plausibel und glaubhaft macht, sei ihr Wahrheitsgehalt bzw. daß sie für wahr gehalten wird, gilt also allein in der rationalen Plausibilitätsform und ist keineswegs universell. Es brauchen gar nicht alle Menschen unbedingt Wahrheit. Das Phänomen ist uralt. Platon beschreibt es im Höhlengleichnis: Diejenigen, die denen in der Höhle sitzenden und die Schattenbilder für Realität Haltenden ihren Irrtum erklären, werden von ihnen für Spinner und Scharlatane gehalten und nicht ernst genommen. Heute nennt man sie Verschwörungstheoretiker, die behaupten, es gäbe da noch eine ganz andere Realität außerhalb der Höhle.

Es hängt also von der Persönlichkeit ab, nach welchen Plausibilitätsformen man eine Information zur Überzeugung werden läßt und wie stark man an ihr festhält. Im Umgang mit Wissen kann man zwei Charaktertypen unterscheiden: Der eine strebt dabei nach Wahrheit, der andere nach Sicherheit. Dem ersten gilt sein aktueller Stand des Wissens nicht für abgeschlossen und ewige Wahrheit, er ist offen, seine Überzeu-gungen zu korrigieren, wo sie Irrtümer sind. Ihm geht’s um Wahrheit um jeden Preis, um nicht mit einer falschen Auffassung leben, falsch und mgw. fremd bestimmt handeln zu müssen. Zu seiner Identität gehören eine grundsätzliche Skepsis und das Vertrauen in die eigenen intellektuellen Fähigkeiten, kontroverse Argumente selbst beurteilen und verifizieren zu können und zu wollen, um mündig und selbstbestimmt zu sein.

Der Sicherheitsbedürftige ist auch mit allen anderen Plausibilitätsformen zufrieden. Zwingt man ihn in der modernen Welt schon zur Wissenschaft, so benutzt er sie auch nur, um das Bedürfnis nach festen Strukturen (und damit Feindbildern, der Einteilung in gut und böse) zu befriedigen, nach einer Komfortzone, in der mans sich einrichten kann und die man möglichst nie wieder verlassen muß. Diese Menschen denken einfach nicht selbst, sie sind es gewohnt, fremde Gedanken zur eigenen Überzeugung zu machen, ohne ihnen auf den Grund zu gehen und sie wirklich zu verstehen. Es gehört zu ihrem Welt- und Selbstbild, in festen Strukturen und einer einfachen, verstehbaren und im Grunde freundlich gesinnten Welt zu leben. Denkgewohnheiten verlassen zu müssen, Dinge hinterfragen und ständig ihre Überzeugungen revidieren zu sollen, wird als unangenehme Störung der Komfortzone, als Angst, Orientierung, Halt und Identität zu verlieren, angesehen und vehement abgewehrt. Allein schon gegen die rein gedankliche Beschäftigung mit einer anderen Auffassung wehren sie sich mit Händen und Füßen und bedienen sich dabei gern den von den Herrschenden und ihren Medien vorgegebenen Etiketten wie Ketzer oder Verschwörungstheoretiker. Kann man diese Etiketten irgendwo drauf kleben, muß man sich damit nicht mehr auseinandersetzen und jede drohende Verunsicherung ist beseitigt. Auf den Versuch, Medienkompetenz in bezug auf Wikipedia durch den Hinweis auf die beiden Filme von Markus Fiedler anzuregen, erhielt ich die Antwort: „Ich verstehe nicht, wieso man einem Verschwörungstheoretiker wie Ken Jebsen, der diese Filme inszeniert mehr glauben sollte als einschlägigen Wissenschaftlern. Aber das muß wohl jeder für sich selbst entscheiden.“ Wieder ein schöner performativer Widerspruch: Wer sich mit dem Etikett Verschwörungstheoretiker Denkverbote errichten läßt, entscheidet eben nicht selber. Hinter dem Bedürfnis nach Konformität verschwindet jegliches Bewußtsein für Fremdbestimmung. Auch der Hinweis auf den Glauben und „einschlägige Wissenschaftler“ verrät die Anspruchslosigkeit in bezug auf Selbstreflexion und Wahrheit. Entweder man kann etwas und jemandem ungeprüft glauben oder man findet sofort einen Grund, um sich nicht kritisch mit kontroversen Argumenten auseinandersetzen und vielleicht noch selbständig entscheiden zu müssen, was plausibel ist. Das Etikett Verschwörungstheoretiker verrät sogleich die Abweichung vom Common Sense und rettet damit die Komfortzone des Sicherheitsbedürftigen.

Dem muß eine charakterliche Labilität oder Konditionierung zugrunde liegen, sich selber und seinem eigenen Verstand weniger zu vertrauen als dem, was Autoritäten oder die Mehrheit verkünden. Die Angst vor der Veränderung, sich neu orientieren und allein stehen zu müssen, zeigt eine konformitäts- und autoritätsbedürftige Haltung, mit dem breiten Strom zu schwimmen und nirgends anzuecken. Skepsis gibt es, aber nur, wenn die Auffassung nicht der der Mehrheit entspricht. Wo das so ist, kann was nicht stimmen und das löst Verunsicherung aus. Dazu erklärt dieselbe Person: „Wenn man merkt, dass man selbst nicht konform ist, sollte man sich zuallererst selbst hinterfragen und erst dann die anderen.“ Man kennt das aus dem Konformitätsexperiment von Salomon Ash: Was die meisten sagen, muß stimmen, auch wenn ich selbst eigentlich anders denke. Diese Menschen sind klassische Mitläufer, während für denjenigen, der an Wahrheit und Selbstbestimmung interessiert ist, Konformität und die Frage, was die meisten Menschen denken, überhaupt kein Argument in der Sache ist.

Die Manipulation der Medien (wie auch Reklame oder Mode überhaupt) funktioniert, weil das Konformitätsbedürfnis der meisten Menschen bedient wird, indem die Herstellung der angeblich öffentlichen Meinung durch eine völlig einseitige und selektive Berichterstattung oder sogenannte Umfragen Mehrheiten suggeriert, die es objektiv gar nicht gibt, nach denen sich auszurichten aber jedem angeraten ist, der nicht allein stehen will. Eigentlich sollte man diese Menschen nicht Linke nennen, sondern Konformisten und Mitläufer, denn das Etikett Links stammt von denselben Medien wie die Etiketten Verschwörungstheoretiker, Rechtspopulist usw., die nur die Aufgabe haben, die konformistische Haltung positiv, die nonkonformistische negativ zu konnotieren. Das ist alles nur die Sprachregelung der Regierenden und herrschenden Cliquen national und international, um ihre Herrschaft abzusichern und Kritik zu unterdrücken. Deshalb haben Diskussionen mit politisch interessierten, aber medieninkompetenten Konformitätsmenschen gar keinen Sinn. Sie haben ihre Überzeugung ja nicht durch rationale Argumente und eigenes Hinterfragen hergestellt, sondern durch Schwimmen im Strom aus dem Bedürfnis nach Sicherheit. Sie werden ihre Haltung und Meinung also erst ändern, wenn sich der Wind dreht, wenn der Strom anders lang fließt. Dann richten sie sich neu aus und, wie wir aus der Geschichte schon wissen, wollen sie dann immer schon in der Opposition gewesen sein.

AP, 24.12.2018