"Noch sitzt ihr da oben, ihr feigen Gestalten,
vom Feinde bezahlt und dem Volke zum Spott.
Doch einst wird wieder Gerechtigkeit walten,
dann richtet das Volk und es gnade euch Gott."

Carl Theodor Körner

Gender und Gendermainstreaming

In der gesamten lebendigen Natur ist alles zweigeschlechtlich organisiert, fast alle Lebewesen gibt es in der weiblichen und männlichen Ausführung. Für die engsten Beziehungen und Partnerschaften zwischen zwei Individuen, ob für eine kurze Zeit oder die Dauer des Lebens, finden sich fast immer heterogeschlechtliche und -sexuelle Paare und das ist für die biologische Fortpflanzung und Vielfalt nicht nur der Normalfall, sondern notwendig. Daß es in der tierischen und menschlichen Natur Homosexualität gibt, ist weitgehend anerkannt. Daß die sexuelle Orientierung zu den Eigenschaften gehört, von denen unabhängig jeder Mensch die allgemeine Menschenwürde hat, also als Adressat moralischen Handelns durch alle anderen Menschen anerkannt werden muß, folgt aus den Werten der Aufklärung und ist Bestandteil unserer Kultur, d.h. der Art und Weise, wie bei uns Menschen miteinander umgehen. Ob es unabhängig vom biologischen Geschlecht ein soziales Geschlecht geben soll, ist nicht nur eine moralische Frage danach, ob unabhängig von dieser Eigenschaft der Mensch die allgemeine Menschenwürde hat, sondern auch eine Frage der Gerechtigkeit, ob jemand den berechtigten Anspruch stellen darf, daß sein empfundenes, also soziales Geschlecht abweichend vom biologischen zu seiner individuellen Identität gehört und die Anerkennung desselben somit seine persönliche Würde ausmacht, die alle anderen Menschen respektieren müssen.

Das trifft keinesfalls auf alle Eigenschaften zu, die jemand als zu seiner Identität gehörig ansehen könnte, z.B. können Neigungen, deren Verwirklichung anderen schadet wie Pädophilie oder Kleptomanie nicht als zur Würde eines Menschen gehörig betrachtet werden. Zur Freiheit und Würde eines Menschen kann nur gehören, was die Freiheit und Würde aller anderen nicht einschränkt. Pathologische Eigenschaften erfordern Therapie, aber generieren keine Sondermoral und Privilegien, die gegen das Sittengesetz im kategorischen Imperativ verstoßen. Dasselbe gilt für den Glauben oder die Religionszugehörigkeit, die innerhalb einer Ordnung, die auf dem Fundament der Werte der Aufklärung steht, keine Privilegien oder besondere Rücksichtnahme, weder Bevor- noch Benachteiligung beanspruchen können.

Die Frage nach dem sozialen Geschlecht ist also einerseits eine Frage danach, ob es das tatsächlich gibt, ob biologisches Geschlecht und geschlechtliche Selbstwahrnehmung auseinander fallen können. Andererseits geht es darum, ob solche Menschen berechtigt den Anspruch erheben können, daß ein vom biologischen Geschlecht verschiedenes soziales Geschlecht zu ihrer Identität gehört, weil es entweder angeboren, aber nicht pathologisch, oder sozialisiert oder frei gewählt, aber nicht ideologisch ist und seine Verwirklichung die Freiheit anderer nicht einschränkt. Die Erfindung von „Gender“ geht auf Judith Butler zurück, die damit in Anlehnung an das grammatikalische Geschlecht in der englischen Sprache das Phänomen beschreiben will, daß es im Unterschied zum biologischen Geschlecht, im Englischen Sex, das soziale Geschlecht „Gender“ gibt. Gender ist also ein theoretisches, besser erkenntnistheoretisches Instrument, das es uns ermöglicht, empirische, in diesem Fall soziale Phänomene zu erkennen und zu beschreiben. Meiner Meinung nach hat die Erfindung des Begriffs das Phänomen nicht erzeugt, es ist viel älter als dieser, sondern er ist tatsächlich ein nützliches Erkenntnisinstrument, um einen real existierenden Aspekt der menschlichen Erfahrung zu beschreiben.

Moralisch gehört das soziale Geschlecht nicht in die Kategorie Geschlecht, sondern zur sexuellen Orientierung, von der die moralische Behandlung eines Menschen unabhängig sein soll. In Gesellschaften, deren Kultur, d.h. Umgang der Menschen miteinander auf den Werten der Aufklärung beruht, ist jeder Mensch Adressat moralischen Verhaltens durch alle anderen, weil er ein Mensch ist, mithin vollkommen unabhängig von konkreten und individuellen Eigenschaften, die er hat. Gerechtigkeit geht über die bloß moralische Behandlung hinaus und besteht gerade in der Akzeptanz ganz konkreter und individueller Eigenschaften eines Menschen, die seine persönliche Identität begründen. Die Moral bezieht sich auf die allgemeine Menschenwürde, Gerechtigkeit auf die individuelle und persönliche. Die sexuelle Orientierung ist zum größten Teil angeboren, nicht pathologisch und nicht per se zum Schaden aller anderen. Sie gehört damit zur Identität eines Menschen, der den berechtigten Anspruch haben darf, mit dieser Identität nicht nur Adressat moralischen Handeln durch alle anderen zu sein, sondern insbesondere in dieser Eigenschaft seiner sexuellen Orientierung Achtung und Respekt zu erfahren. Ich denke, daß das soziale Geschlecht im Wesentlichen ebenso angeboren, nicht pathologisch und nicht per se zum Schaden aller anderen ist und die Identität mancher Menschen ausmacht, daß es zum größten Teil nicht ihrer Willkür unterliegt, nicht sozial konstruiert und künstlich ist, sondern auch von den Betroffenen selbst erkannt, anerkannt und als nicht dem Normalfall entsprechend akzeptiert werden muß.

So wie bei einem Menschen die sexuelle Orientierung nicht dem Normalfall entsprechen muß, kann es auch möglich sein, daß mancher sich mit seinem angeborenen biologischen Geschlecht weniger identifizieren kann als mit dem anderen, ein Mann sich als Frau wahrnimmt, eine Frau sich als Mann. Der Blick in die Hose läßt nämlich nur das biologische Geschlecht erkennen, das zwar in den meisten Fällen mit dem sozialen identisch ist, manchmal aber eben nicht. Gender ist damit wirklich ein wertvolles Instrument, das es zu Zeiten der Aufklärung noch nicht gab, das aber ohne Zweifel dem Geiste der Aufklärung und ihrem emanzipatorischen und befreienden Anspruch entspricht. Es ist falsch, aus dem statistischen Normalfall eine vorschreibende Norm für jeden zu machen, eine Idee, nach der alle Menschen geformt und genormt werden müssen. In diesem Denken hat man einst Linkshändern in der Schule den linken Arm auf dem Rücken festgebunden, um sie zu zwingen, mit der rechten Hand zu schreiben. Heute fragt man sich, welches Problem eine Gesellschaft damit haben kann, daß manche Menschen mit der linken Hand schreiben, und wieso man sie durch physischen und psychischen Zwang der Mehrheit angleichen wollte. Im Gegenteil muß man es den Menschen möglichst leicht machen, ihre Identität zu erkennen und auch da zu akzeptieren, akzeptiert zu werden, wo sie nicht dem Normalfall entspricht, denn nur da kann es überhaupt einen Konflikt mit der Selbsterkenntnis und –akzeptanz geben. Es ist bekannt, daß die Suizidrate bei homosexuellen Jugendlichen besonders hoch ist, wenn ihre sexuelle Orientierung von der Mehrheit oder ihrem Umfeld nicht akzeptiert wird. Deshalb ist es in der fortschreitenden Verwirklichung der Werte der Aufklärung richtig, gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, in denen maximale individuelle Freiheit mit sozialer Verantwortung verbunden sind und jeder sich selbst und seine Identität erkennen und entwickeln kann, ohne den Zwang einer falschen und ungerechten Normierung zu erleiden, aber auch ohne das Bewußtsein für Normalfall und Ausnahme zu verlieren.

Genauso wie eine Demokratie nicht die Herrschaft des Volkes oder der Mehrheit über die Minderheit ist, weil Demokratie überhaupt keine Herrschaft ist, sondern Freiheit, so darf die Mehrheit gegenüber den Minderheiten nicht aus ihrem Normalfall eine Norm machen, aber genauso darf eine Minderheit in ihrem emanzipatorischen Anspruch der Mehrheit nicht absprechen, der – in diesem Fall sogar biologische – Normalfall zu sein. Der Unterschied zwischen Norm und Normalfall und die wertfreie Anerkennung derselben ist die Grundlage für den Umgang mit sämtlichen Minderheiten. Das Gleichmachen von Rechts- und Linkshändern ist genauso falsch wie das Gleichmachen der sexuellen Orientierungen und Geschlechter. Wenn der Mehrheit aber ihre Normalität als Unterdrückung moralisch vorgeworfen oder die Normalität als solche infrage gestellt, relativiert und zum bloßen gesellschaftlichen Konstrukt erklärt wird, handelt es sich nicht mehr um die Verwirklichung des emanzipatorischen Anspruchs der Aufklärung, nicht um Moral und nicht um Gerechtigkeit, sondern um eine neue Ideologie. Gendermainstreaming, also die Geschlechtergleichschaltung ist ein falsch verstandener emanzipatorischer Anspruch der neulinken, aus der Frankfurter Schule stammenden Gesinnung und weit übers Ziel der Gleichberechtigung aller Identitäten hinaus geschossen. In der Abwendung von den werktätigen und schaffenden Massen als Subjekt und Ziel klassisch linken, politischen Handeln hin zu allen möglichen Minderheiten einer Gesellschaft hat diese neulinke Gesinnung aus ursprünglich berechtigten Ansprüchen eine Ideologie gemacht, in der wieder Menschen nach einer Idee geformt werden, die ihren natürlichen Identitäten nicht entspricht, die ihnen keine Freiheit und damit keine Würde läßt, sondern die mit der political correctness eine neue Norm, einen Verhaltens- und Gesinnungszwang und damit ein neues Herrschaftssystem etabliert.

Ziel der Ideologie ist, unter dem Vorwand der Moral, der Gleichberechtigung aller Menschen die totale substanzielle Gleichheit herzustellen, mithin individuelle und persönliche Identitäten und die Würde eines jeden Menschen zu zerstören. Dem dient Gendermainstreaming, in dem es nicht nur darum geht, das soziale Geschlecht auch im Unterschied zum biologischen als zur persönlichen Identität und damit Würde eines Menschen gehörig anzuerkennen, sondern das Geschlecht genauso wie die sexuelle Orientierung oder die klassische Familie als willkürliche Konstruktion zu propagieren und damit Identitäten aufzulösen. Dieser Ideologie entspricht es, daß es nicht nur zwei biologische und zwei soziale Geschlechter gibt, die eben nicht immer und in jedem Menschen deckungsgleich sind, sondern daß Geschlecht und sexuelle Orientierung täglich neu und willkürlich zwischen Dutzenden Alternativen gewählt werden können, als hätte die Wahl einer bestimmten Lebensweise gar nichts mit dem Wesen und der Identität des Menschen zu tun.

Beim Gendermainstreaming kann also beobachtet werden, was auch auf alle anderen Bereiche der neulinken Gesinnung zutrifft: es geht darum den Menschen und die Gesellschaft nach einer Idee zu formen und zu normen, die nicht mehr viel mit seiner Lebenswirklichkeit, gewachsenen, biologischen und kulturellen Strukturen und damit seiner Identität zu tun hat. Es geht um ein theoretisch utopisches Projekt, praktisch aber um die Ziele einer globalen Herrschaftskaste der Mächtigsten und Reichsten der Welt, die im besten brave-new-world-Sinn eine vertikale Herrschaftsordnung durchsetzen und damit in reaktionärer Weise die Errungenschaften der Aufklärung rückgängig machen wollen. Die neulinke Gesinnung dient damit wissentlich und vorsätzlich oder manipuliert und verführt konterrevolutionären Bestrebungen in der Schaffung der perfekten Untertanen als eine Art Mischung aus kommunistischem Massenmenschen und kapitalistischem Einheitsmenschen als Arbeits-, Konsum- und Steuerzahlsklaven, völlig fremdbestimmt und willkürlich manipulierbar, entwurzelt und orientierungslos, ohne Bindung und Identität, wehrlos, würdelos und unglücklich.



AP, 31.12.2016