"Noch sitzt ihr da oben, ihr feigen Gestalten,
vom Feinde bezahlt und dem Volke zum Spott.
Doch einst wird wieder Gerechtigkeit walten,
dann richtet das Volk und es gnade euch Gott."

Carl Theodor Körner

Bundestagswahlen 2017 - wählen oder nicht wählen?

Der Satz von Tucholsky „Wenn Wahlen etwas verändern würden, wären sie verboten.“ ist richtig, wenn man von Wahlen eine Änderung des Systems erwartet, aber er ist falsch, wenn man ihn wörtlich nimmt. Die Frage ist, wie man das "Etwas" definiert. Tucholsky selbst konnte wissen, was Wahlen bewirken können, denn ohne entsprechende Wahlergebnisse wäre Hitler nie Reichskanzler geworden. Er wurde dazu zwar nicht gewählt, bekam mit seiner Partei auch nie die absolute Mehrheit, wäre aber ohne die Wahlergebnisse nicht zum Kanzler ernannt worden. Da haben die Folgen von Wahlen tatsächlich nicht nur etwas, sondern das ganze System verändert.

Die Wahlen im Frühjahr 1989 in der DDR hatten noch viel weniger Aussicht darauf, etwas zu verändern, weil bei Wahlen in der DDR das Ergebnis feststand und es nur um die Bestätigung des status quo ging. Aber der Nationalen Front hat es damals nicht gereicht, die absolute Mehrheit zu bekommen, sie wollte unbedingt fast 100% Zustimmung demonstrieren. Es wurde eine republikweite Wahlbeobachtung organisiert und sämtliche Auszählungsergebnisse auch ohne Internet zentral erfaßt. Damit konnte bewiesen werden, daß die Wahl dreist gefälscht wurde, und das hat u.a. zur Bewußtseinsveränderung und zum Widerstand im Land beigetragen. Diese Wahl war also, auch ohne daß es eine nicht zum System gehörende alternative Partei gab, einer der Auslöser für die folgenden Veränderungen und das Ende der DDR.

Und genauso kanns heute sein. Nichtwähler zu sein, bloß weils keine glaubwürdige Partei gibt, weil die, gäbe es sie, ohnehin nicht die absolute Mehrheit bekäme, und bekäme sie sie, sie doch wieder nur auf Linie gebracht und gezähmt werden würde, bedeutet, daß man mindestens auf die Möglichkeit, die Wahlfälschung aufzudecken, verzichtet. Noch vor acht Jahren gab es keine Alternative jenseits der Einheitspartei bestehend aus den Fraktionen schwarz, gelb, rot, grün. Ob die AFD auch nur eine weitere Fraktion dieser Einheitspartei ist und nach der Wahl ganz schnell auf Linie gebracht wird, ist für diese Frage nach dem Anstoß von Veränderungen belanglos. Auch wenn sie eine Systempartei ist, so wissen das noch lange nicht alle im System und sie wird durch Politik und Medien behandelt, als wäre sie eine gefährliche Opposition. Auch wenn diese Rollen nur gespielt sind, so garantiert das keine Kontrolle über Bewußtsein und Verhalten der Menschen. Kommt es wie bei vergangenen Landtagswahlen zur Wahlfälschung, die sich im besten Fall nicht geheim halten läßt, kommt es zu Neuwahlen, so wird das das gesamtgesellschaftliche Bewußtsein verändern. Außerdem stellt sich die Frage, warum die Wahl gefälscht werden sollte, wenn die AFD eine Systempartei ist, die ihre zugedachte Rolle spielt. Dann ists doch wie bei allen anderen Parteien fürs System egal, ob sie 5, 10 oder 20% bekommt.

Entgegen dem Argument, daß man bei der Wahl seine Stimme abgibt, die dann in einer Urne verschwindet, verpflichtet die Teilnahme an der Wahl ja nicht dazu, sich hinfort aus dem politischen Geschehen rauszuhalten, seine Stimme abzugeben und danach wirklich zu schweigen, sondern man kann die Wahl auch einfach als eine Option neben anderen ansehen, eine Veränderung anzustoßen oder entgegen allen sogenannten "Umfragen" vorher tatsächlich zu zeigen, wie die Leute ticken. Niemand kann vorhersagen, welche Aktionen welche Wirkungen haben werden, jede andere Strategie für Veränderungen ist genauso unsicher. Es gibt keine einzelne, an einem Tag durchführbare Aktion, die eine Veränderung des Systems bewirkt. Jede Aktion provoziert Reaktionen und schafft damit neue Möglichkeiten, verändert die Verhältnisse. Wenn man keine gewaltsame Revolution will, dann besteht jede Evolution immer aus vielen kleinen Schritten, aus Stufen, die aufeinander aufbauen und durch die sich weitere Optionen auftun, die sich ohne sie nicht ergeben hätten. Es ist einfach ein empirischer Versuch, so wie die Mahnwachen einer waren, die gesamtgesellschaftliche Bewußtlosigkeit ein Stück zu verändern.


AP, 5.9.2017