"Noch sitzt ihr da oben, ihr feigen Gestalten,
vom Feinde bezahlt und dem Volke zum Spott.
Doch einst wird wieder Gerechtigkeit walten,
dann richtet das Volk und es gnade euch Gott."

Carl Theodor Körner

Der freie Wille

Zunächst muß man klar definieren, was man unter freiem Willen versteht. Ebenso muß definiert werden, was Determinismus sein soll, ist das der bloße Kausalmechanismus, also die quantifizierte, mathematisierte, naturwissenschaftliche Erklärung von Ereignissen oder mehr? Die Definitionen sollen irgendwie für uns sinnvoll sein, Phänomene erklären, soziale Normen rechtfertigen und begründen, zum Verständnis des Menschen beitragen. Die Existenz des freien Willens (innere Freiheit) im einzelnen Menschen ist vielleicht die Voraussetzung der Handlungsfreiheit (äußere Freiheit) und damit der Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun. Es geht um Selbstbestimmung vs Heteronomie und eigentlich darum, ob jemand etwas tun, sich dazu entscheiden kann und genauso gut für das Gegenteil entscheiden und das tun könnte. Freier Wille bedeutet hier, daß man sich zwischen verschiedenen Möglichkeiten frei entscheiden kann.

Und damit ist man wieder bei der Frage nach der Definition des freien Willens, die vor allem beachten muß, den freien Willen von der Willkür zu unterscheiden. Dazu gibt es schöne Gedanken bei Leibniz in bezug auf Gott, der natürlich einen freien Willen hat, aber trotzdem nicht willkürlich handeln kann, weil er ja auch ein Ziel hat, das mit seinem Wesen, seinen Charaktereigenschaften zusammen hängt, also damit, daß er gut, allwissend und allmächtig ist. Da könnte man ihm unterstellen, daß er determiniert und festgelegt ist, weil er ja das Böse gar nicht tun kann. Er wäre damit vielleicht noch allmächtig, aber eben nicht frei, wenn er sich nie für das Böse entscheiden kann. Leibniz jedoch meint, daß er mit seiner Allmacht zwar auch böses tun könnte, aber das nicht wollen kann, weil er im strengen Sinn moralisch gut ist, weil das seinem Wesen entspricht und er in seiner Allwissenheit natürlich niemals etwas tut, was seinem Wesen und damit seinem Willen widerspricht. Die Menschen können das auch nur, weil und wo sie nicht allwissend sind. Wissentlich handelt niemand gegen seinen eigenen Willen, gegen das, was ihm entspricht.

Die Wahrnehmung, daß wir alle einfach davon ausgehen, daß es den freien Willen gibt, weil wir es als selbstevident annehmen, da wir täglich davon Gebrauch machen, hat keine philosophische Evidenz, keine Offenkundigkeit genauso wie unsere eigene Existenz nach dem Motto cogito ergo sum. Denn der Satz von Descartes sagt ja nichts darüber, was ich bin. Ich kann daraus nicht gleich auf mich als Körper in Raum und Zeit, als derjenige, den ich im Spiegel sehe, schließen. Daß ich glaube, einen freien Willen zu haben, könnte ein Irrtum sein, es könnte jemand anderes als Determinismus enttarnen und alle physiologischen Vorgänge dahinter beschreiben, aber das würde nichts an meiner Selbstwahrnehmung ändern. Die Frage ist, warum die Selbstwahrnehmung so ist und ob das eine Notwendigkeit hat. Es ist richtig, daß, wer den freien Willen bezweifelt, seinen Zweifel begründen und dazu die angeblich empirische Offenkundigkeit begründet bezweifeln muß, aber er muß dann gleichzeitig den Determinismus beweisen und beschreiben, worin er besteht. Zweifel muß immer praktisch, ernst gemeint sein und nicht nur verbal.

Nach den Aporien der reinen Vernunft (in der Kritik der reinen Vernunft von Kant) kann es keinen freien Willen geben, der so definiert ist, daß er dem kausalmechanischen Zusammenhang der Welt widerspricht. In diesem hat alles, was geschieht, eine äußere, sinnliche Ursache in Raum und Zeit. Der freie Wille als immaterielle Entität kann keinen Anfang von etwas in Raum und Zeit setzen, ohne selbst durch etwas anderes in der sinnlichen Welt verursacht zu sein, sonst würde es einen Bruch im Kausalmechanismus geben und ständig erste Ursachen, die selbst keine Wirkung anderer Ursachen in der Welt wären. Die Aporie entsteht allerdings dadurch, daß man den freien Willen als Eigenschaft des Geistes und damit immateriell annimmt und annehmen muß, weil er ja sonst im Kausalmechanismus determiniert und nicht frei wäre. Die ganze sinnliche Welt ist nach Kant und den modernen Naturwissenschaften kausalmechanisch organisiert und materialistisch. Es ist darin kein Platz für den immateriellen Geist, für intelligible Wesen und Bewußtsein als Eigenschaften derselben. Der Wille muß eindeutig bestimmt sein, soll aber weder kausalmechanisch determiniert, noch völlig unabhängig von der empirischen Welt sein. Der freie Willen ist weder Determinismus noch Willkür. Die Frage ist also, was bestimmt meinen Willen, wie entsteht er, was macht ihn aus und was setzt er voraus.

Von einem Willen kann man überhaupt nur im lebendigen und organischen Bereich der Welt sprechen. Das Lebendige zeichnet sich dadurch aus, daß es sich von selbst bewegt und verändert und dazu keinen äußeren Anstoß braucht. Es fällt damit nicht unter die Newtonschen Axiome, wonach ein Körper in Ruhe oder geradlinig, gleichförmiger Bewegung verharrt, sofern keine äußere Kraft auf ihn wirkt und die Bewegungs- oder Richtungsänderung immer proportional zur einwirkenden Kraft ist. Das trifft vollständig nur auf die tote Materie zu, das Lebendige braucht keine äußere und einwirkende Kraft, um sich zu bewegen und die Richtung zu ändern. Ein Willen ist also das, was in einem Lebewesen einer Bewegung oder Veränderung vorhergeht so wie in der toten Welt eine Kraft einer Bewegung. Er ergibt sich aus dem Wesen und Streben des Lebewesens, das es entweder mit allen Lebewesen gemeinsam hat oder das ganz spezifisch für dieses Lebewesen ist, z.B. Stoffwechsel und Ernährung, Vermehrung und Aufzucht der Nachkommen oder individuelle Präferenzen, Verhaltensweisen und Geschmäcker. 

Bewußtsein ist nicht unbedingt notwendig, um Informationen zu verarbeiten, also auf einen sinnlichen Reiz ein Verhalten folgen zu lassen, wie es auch bei primitiven Tieren möglich ist. Um drüber sprechen zu können und um zu wissen, daß es einen sinnlichen Reiz gibt, was er bedeutet und mit welchem Verhalten man drauf reagieren kann, braucht man aber ein Bewußtsein der Informationsverarbeitung, d.h. ein Selbstbewußtsein, eine Selbstreflexion. Wenn die Handlung  nun nicht notwendig folgt, wir uns nicht nur passiv dabei beobachten, wie unser Körper dieses Verhalten ausführt (was es bei Reflexen usw. ja gibt), dann beobachten wir die Disposition zu diesem Verhalten als Neigung oder Abneigung, also als Willen, zwischen dem und dem Verhalten ein Entschluß liegen muß. Daß eine Maschine kein Bewußtsein braucht, liegt daran, daß sie nicht lebt. Bewußtsein ist eine Funktion des Lebendigen, die natürlich, da alles Lebendige in Individuen existiert, unmittelbar nur individuell erfahrbar, aber durch Sprache kommunizierbar ist. Selbsterfahrung oder Erfahrung überhaupt ist nur im Bewußtsein möglich, alles andere wäre eine unmittelbare, unbewußte Reaktion auf Reize. Informationen gibt es eigentlich nur, wo es ein Bewußtsein gibt, das diese Informationen versteht, das die Bedeutung kennt. In bezug auf Maschinen wird der Begriff Information nur metaphorisch verwendet, weil Maschinen eben kein Bewußtsein haben, nichts verstehen können, sondern einem Programm folgen.

Damit ein Wille frei ist, muß er einerseits bewußt sein, andererseits als Entscheidung formuliert, als Plan ausgeführt werden können, so daß zwischen Entscheidung zu einer Tätigkeit und Ausführung derselben eine Zeit vergehen und diese ggf. exakt bestimmt werden kann, daß also das Streben und Tun nicht unmittelbar und unreflektiert erfolgt, sondern vermittelt und durch Reflexionen und Überlegungen auch noch verändert werden kann.

Man muß wissen, was man mit dem freien Willen will, ob und welche Phänomene in der Welt dieses Konzept erklären können soll oder ob es um die Definition bestimmter Haltungen geht. Soll der freie Wille allein die Möglichkeit moralischen Handeln gewährleisten, so daß jede sinnlich bestimmte Handlung nicht frei und nicht moralisch ist, so wie Kant es definiert, oder soll der freie Wille die Voraussetzung sowohl für gutes Handeln als auch schlechtes und böses sein, wie das bei Leibniz gesehen wird? Ich bin für das zweite Konzept, weil ich meine, daß es unserem Erleben besser entspricht. Der Mensch ist zu Fehlern und moralisch verwerflichen Handlungen fähig durch seinen freien Willen und seine Endlichkeit, sein begrenztes Wissen, seine begrenzte Macht und Zeit. Nur der freie Wille kann überhaupt manipuliert werden. Sowohl für Autonomie als auch Heteronomie des Willen muß ein freier Wille vorausgesetzt werden. Wer determiniert ist, kann nicht manipuliert, der Willen nicht instrumentalisiert und umgelenkt werden. 

Daß allen Gedanken und intellektuellen, geistigen Entitäten physiologische Vorgänge entsprechen, berechtigt nicht dazu, aus diesen zwei Aspekten derselben Sache, zwei verschiedene Entitäten zu machen und sie in ein kausales Verhältnis zu bringen. Es handelt sich um ein und dieselbe Sache betrachtet aus zwei verschiedenen Perspektiven. In der Antike wurde das kausale Verhältnis so verstanden, daß das geistige Wollen die Materie formt, die Gedanken der intellektuellen Welt also Ursache für physikalische Vorgänge in Raum und Zeit sind. In der Neuzeit gilt umgekehrt, daß die materiellen Konstellationen im Körper Ursache der geistigen Regungen und Reflexionen sind. Beides ist falsch, weil es hier gar kein kausales Verhältnis gibt und das auch gar nicht nötig ist. Die quantifizierte, mathematisierte Perspektive der klassischen Physik, die nur Raum, Zeit und Kausalität (Wirkursache, causa efficiens) kennt, kann einen funktional organisierten, lebenden Organismus gar nicht beschreiben, ohne daß sein Wesen dabei verloren geht, weil die Begriffe Funktion, funktionale Organisation und Sinn eine Teleologie voraussetzen, die es in dieser Perspektive nicht gibt. Deshalb bedienen sich zoologische und verhaltensforschende Wissenschaften über Lebewesen immer einer metaphorischen Sprache. Ist schon das Lebendige auf einer höheren Organisationsebene als tote Materie, so gilt das für den Bereich der bewußten Selbstreflexion ein weiteres Mal. Mit den Kategorien und Parametern der niederen Ebene lassen sich die Phänomene der höheren vielleicht noch umständlich beschreiben, aber nicht verstehen, während wir als lebendige und geistige Wesen lebendige und geistige Phänomene unmittelbar verstehen, auch wenn wir sie auf der physikalischen Ebene nicht erklären können, z.B. Verhaltensweisen bei Tieren, die wir als Hunger, Wollust, Müdigkeit, Krankheit, Verspieltheit verstehen und beschreiben.

Die meisten Lebewesen handeln unmittelbar und instinktiv, können weder ihren Willen reflektieren noch sich innere oder äußere Reize bewußt machen oder mitteilen, sie können keine Entscheidung  treffen und diese zu einem konkreten vorher angegebenen Datum in die Tat umsetzen. Die Freiheit des Willens besteht also allein in der Fähigkeit, ihn bewußt zu machen, nicht nur etwas zu wollen, sondern zu wissen, daß man will, wozu eine exzentrische Position nötig ist, Abstand zu sich nehmen und sich reflektieren zu können. Der freie Wille bedeutet, absichtlich und bewußt zu handeln, um ein Ziel zu erreichen, daß man erreichen will. Die Allwissenheit widerspricht dem freien Willen nicht, weil das Wissen einerseits noch gar nicht gerichtet ist, sondern bloße Information und weil der Wille nicht allein durch Wissen bestimmt wird, sondern durch das Wesen, das ihn hat. Äußere, politische Freiheit, Handlungsfreiheit besteht darin, seinen inneren freien Willen in praktischen Handlungen realisieren zu können, also sein zu können, was man ist, was seinem Wesen entspricht.

Strafe setzt den freien Willen übrigens nicht voraus. Strafe hatte in der Menschheitsgeschichte verschiedene Aufgaben, sie kann auch einfach jemandem oder etwas gegenüber zur Anwendung kommen, der oder das uns geschadet hat, völlig unabhängig davon, ob es dazu frei oder determiniert war, ob es bewußt oder versehentlich, wissend oder blind gehandelt hat. In der modernen Rechtsprechung spielt der Vorsatz natürlich eine große Rolle, trotzdem ist das keine notwendige Bedingung, siehe „Eltern haften für ihre Kinder“. Schuld im moralischen Sinn setzt den freien Willen allerdings notwendig und praktisch voraus, also nicht nur potenziell, sondern aktual für die die Schuld verursachende Handlung, die absichtlich gewesen sein muß. Juristisch gibt es Abstufungen der Schuldfähigkeit durch Umstände, die den freien Entschluß beeinträchtigen können.


AP, 25.11.2016